Ohne Zweifel ist Europa weder politisch noch wirtschaftlich in guter Verfassung. Doch ist der Kelch einer Abstufung Portugals auf Junk-Status durch die kanadische Rating-Agentur DBRS an den Finanzmärkten vorübergegangen.
Das BBB(low)-Rating Portugals wurde bestätigt, so dass portugiesische Staatstitel weiterhin die Voraussetzungen für Anleiheaufkäufe seitens der EZB erfüllen.
Sicherlich ist Griechenland völlig unfähig, seine Schulden zu tragen. Dennoch wird durch eine typisch europäische Schuldenkompromisslösung einerseits die Auszahlung der nächsten Kredittranche an Griechenland gesichert und andererseits die Zurückzahlung der Schulden auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verschoben. Die große Politik dominiert die Fiskal- bzw. Stabilitätspolitik. Denn die Eindämmung der Flüchtlingskrise mit Hilfe des hierbei bedeutenden EU-Außenpostens Griechenland soll nicht durch eine Staatskrise des Landes vereitelt werden. Zudem würde eine ähnlich starke mediale Präsenz der Griechenland-Krise wie 2015 das Risiko eines Austritts der Briten aus der EU erhöhen.
Ein Gradmesser in puncto Euro-Krise ist die Entwicklung 10-jähriger Renditen von Staatsanleihen der Eurozone. Im Trend verhalten sie sich unkritisch und haben sogar zuletzt wieder nachgegeben.
Käme es zum „Brexit“ würden EZB und Bank of England in einem konzertierten Vorgehen mit noch mehr Liquidität und Währungsstützungen jedem Risiko an den Finanzmärkten entgegentreten. Ohnehin dürften sich auch die unmittelbaren wirtschaftlichen Schäden in engen Grenzen halten. Denn bis zum kompletten Vollzug des Austritts ist laut EU-Verträgen ein Zeitraum von zwei Jahren vorgesehen. Solange bliebe Großbritannien Mitglied der EU und des gemeinsamen Binnenmarkts. Ohnehin würde beim Brexit die britische Regierung ein Assoziierungsabkommen mit der EU ähnlich wie im Falle der Schweiz anstreben. So behielte Großbritannien dennoch wirtschaftlichen Zugang zum großen EU-Binnenmarkt.
Dennoch dürfen die langfristigen politischen Folgen nicht unterschätzt werden. Assoziiert heißt eben nicht Familienmitglied. Tritt ein wichtiger Partner wie Großbritannien aus, verlöre das EU-Gemeinschaftswerk an geopolitischer Bedeutung. Amerika würde versuchen, über Großbritannien noch mehr wirtschaftlichen Einfluss auf Europa auszuüben, z.B. in Fragen des Freihandelsabkommens TTIP. Auch könnte Großbritannien seinen Finanzmarkt erneut deregulieren und damit den Finanzmärkten in der „Rest-EU“ eine attraktive Alternative entgegenstellen. Mit dem Brexit verlöre auch die Marktwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit in der EU einen starken Befürworter. Stattdessen gewänne in Europa die Staatswirtschaft mit ihrer Schuldengläubigkeit und Finanzierung durch die Geldpolitik noch mehr an Einfluss.
Nicht zuletzt könnten die Zerfallserscheinungen in Europa weiter zunehmen. Der Brexit wäre dann der erste fallende Dominostein. In vielen EU-Staaten ist die Skepsis Europa gegenüber ohnehin auf historischen Höchstständen. Und schließlich wären über politische und auch finanz- und wirtschaftspolitische Kollateralschäden früher oder später auch die Aktienmärkte Europas negativ betroffen.
Immerhin hat sich die Wahrscheinlichkeit für einen Brexit zuletzt verringert. Aktuellen offiziellen Umfragen zufolge stimmen die Briten am 23. Juni mit knapper Mehrheit gegen den Brexit. Laut den Quoten britischer Wettbüros, die schon 2014 den Ausgang des schottischen Referendums über die Abspaltung von Großbritannien richtig vorhergesagt haben, liegt die Wahrscheinlichkeit für ein „Bremain“ sogar bei rund 70 Prozent. Doch könnten angesichts des hohen Anteils unentschiedener Wähler selbst kleine politische Störfaktoren eine Trendwende im Wahlverhalten bewirken.
Der Autor dieses Artikels ist Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG.