Der IWF senkte seine Wachstumsprognose für Russland von 1,3 auf jetzt nur noch 0,2 Prozent. Die US-Ratingagentur S&P – sicherlich auch politisch motiviert – stuft die russische Kreditwürdigkeit mit BBB- auf die vorletzte Stufe vor Ramsch-Niveau herab. Der Aktienmarkt als funktionierendes Frühwarnsystem zeigt sich hiervon bereits sehr beeindruckt. Eine Analyse von Robert Halver.
Der geopolitische Konflikt zwischen dem Westen und Russland in punkto Ukraine-Krise gärt weiter und könnte eskalieren. Schon jetzt ist ein Kollateralschaden für Russland eingetreten. Während sich andere Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder Südkorea von ihren jahresanfänglichen Verlusten erholen konnten, hat der russische Aktienmarkt-Basis MSCI Russia Index in Euro – über 20 Prozent verloren.
Am Devisenmarkt zeigt sich ein ähnliches Bild. Der Kapitalabzug – die russische Wirtschaft musste bereits im I. Quartal Abflüsse von umgerechnet annähernd 100 Mrd. US-Dollar hinnehmen – nährt den Währungsverfall, der dann aus präventiver Risikovorsorge den weiteren Kapitalabzug nährt. Während sich die Währungen anderer Emerging Markets stabil zeigen, wertete der russische Rubel gegenüber dem US-Dollar seit Jahresbeginn um rund acht Prozent ab. Nicht zuletzt verteuert dies die Bedienung der Auslandsschulden.
Diesem Währungsverfall wirkte die russische Notenbank zwar mit einer Anhebung ihrer Zinsen von 5,5 Prozent auf aktuell 7,5 Prozent entgegen. Trotz einer kurzfristigen Währungsstabilisierung verlieren dennoch Realinvestitionen in Russland kreditfinanzierungsbedingt an Attraktivität, was der Abwärtsspirale aus Kapitalabzug, schwachen Aktienmärkten, Währungsverlusten und steigenden Zinsen längerfristig erneut Vorschub leistet. Angesichts dieses katastrophalen Vertrauensverlusts gibt es für global orientierte Investoren sicherlich attraktivere Anlagemöglichkeiten.
Insbesondere der Export zeigt die sich auftuende Malaise der russischen Volkswirtschaft: Trotz Währungsschwäche musste im Februar ein Exporteinbruch von 12,7 Prozent zum Vorjahr hingenommen werden. Dies ist insofern verwunderlich, als sich europäische Unternehmen aus Risikovorsorge mit Rohstoffen wie Erdöl und -gas in besonders hohem Ausmaß eingedeckt haben dürften.
Wirtschaftlich wird Russland aus einem Kalten Krieg mit dem Westen und einer eventuellen wechselseitigen Sanktionsspirale nicht als Sieger vom Platz gehen. Wenn die russische Bevölkerung längerfristig keine ordentliche Wirtschaftsperspektive hat, wird auch Putin einen hohen politischen Preis zahlen müssen. Der Westen sollte ihm das mit viel Weisheit – nicht vermeintlicher Überlegenheit – deutlich machen. Denn der Westen selbst hat im Vorfeld der Ukraine-Krise gewaltige politische Fehler gemacht, die die jetzige Situation begünstigt haben. Ohnehin sollte die EU ihre Energieversorgung und Deutschland seine Exportaktivitäten im Auge behalten.
Vorerst übersteigen die Risiken die Chancen am russischen Aktienmarkt.
Von diesem potenziellen konjunkturellen Krisenfeld abgesehen zeigt sich die weltwirtschaftliche Stimmung insgesamt durchaus robust. Der offizielle Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe in China hält sich mit einem Wert von aktuell 50,4 – wenn auch nur knapp – über der Expansion anzeigenden Schwelle. Der Umbau der chinesischen Volkswirtschaft hin zu mehr Binnennachfrage scheint nicht zu hard landing-Ängsten zu führen. Auch die US-Konjunkturstimmung beweist nach dem harten Winter wieder Steherqualitäten. So hellt sich der ISM Index für das Verarbeitende US-Gewerbe zum dritten Mal in Folge auf einen Wert von aktuell 54,9 nach 53,7 auf.
Diese Stimmungsverbesserungen scheinen geeignet zu sein, den Einfluss der politischen Krise in der Ukraine auf Euroland zumindest teilweise zu kompensieren. So stabilisiert sich der Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe in Euroland insgesamt auf einen Wert von 53,4 nach 53 im Vormonat. Auch die Stimmung in der exportsensitiven deutschen Wirtschaft zeigt sich mit einem Indexwert von 54,1 – nach 53,7 im Vormonat – wieder optimistischer. Eurozonales Problemkind bleibt Frankreich: Dessen Einkaufsmanagerindex hat sich entgegen dem euroländischen Trend eingetrübt.
Aufgrund einer kurzfristig angestiegenen Inflationsrate – im April auf 0,7 Prozent nach 0,5 Prozent im Vormonat – haben zwar die Spekulationen über ein unmittelbar bevorstehendes Anleihenaufkaufprogramm der EZB einen Dämpfer erhalten. Die nach wie vor signifikante Unterschreitung des EZB-Inflationsziels von zwei Prozent lädt die EZB aber dennoch zu weiteren geldpolitischen Maßnahmen ein. Erneute Leitzinssenkungen, negative Einlagezinsen und an Bedingungen geknüpfte längerfristige Kredittender der EZB und auch der Aufkauf verbriefter Unternehmenskredite aus den Beständen der Euro-Geschäftsbanken werden nach der Europa-Wahl am 25. Mai an Bedeutung gewinnen.
Die US-Notenbank setzt zwar die Drosselung der Liquiditätszuführung in bisher bekanntem Tempo fort und dürfte diese unter heutigen Bedingungen im Herbst vollständig beendet haben. Dennoch wird die Fed nicht müde zu betonen, dass das aktuelle Niedrigzinsniveau auch aufgrund der US-Wachstumsschwäche im I. Quartal wohl noch länger als bislang gedacht andauern wird. Die Zeit für Zinserhöhungen ist noch nicht gekommen.
Insgesamt hat die Liquiditätsschwemme über günstige Refinanzierung und konjunkturelle Schützenhilfe die Erholungsprozesse im Unternehmenssektor vorangetrieben. Konzerne wurden restrukturiert, Produktionsprozesse optimiert und die Unternehmensbilanzen saniert. Als Folge hat sich die Liquiditätsausstattung insbesondere der US-Unternehmen deutlich von ihren Tiefständen 2009 erholt und befindet sich sogar über Vor-Finanzkrisenniveau. Der US-Konjunkturentwicklung noch hinterher hinkend und noch gehandicapt durch die Probleme in der Eurozone liegt die deutsche Liquiditätsausstattung zwar noch zurück. Doch auch Corporate Germany wird dem US-Beispiel folgen.
Vor diesem Hintergrund wissen Unternehmen trotz hoher Dividenden schlichtweg nicht, wohin mit ihrer Liquidität. In Forschung und Entwicklung zu investieren, zahlt sich bestenfalls in ein paar Jahren aus. Stattdessen finden sich in den Konzernzentralen immer mehr Anhänger, Umsätze und technologisches Wissen in Märkten und Bereichen hinzuzukaufen, zu denen man bislang keinen Zugang hatte bzw. in denen man bislang nicht vertreten war oder mit Übernahmen lästige Wettbewerber auszuschalten, um sich insgesamt Marktmacht zu kaufen, mit denen sich höhere Produktpreise durchsetzen lassen.
Ohnehin kommt eine überzogene Liquiditätshaltung an der Börse nicht gut an, da sich der Unternehmenswert durch eine niedrig verzinsliche Kassenhaltung nicht signifikant erhöhen lässt. Vielmehr laden die weltweit rekordniedrigen Zinsen zu Fremdkapitalaufnahmen über z.B. Unternehmensanleihen ein, die dann gemeinsam mit hohen Liquiditätspolstern zu prall gefüllten Kriegskassen für Übernahmen und Fusionen führen. Die deutlich höheren Eigenkapitalrenditen der Kapitalgüterindustrie laden dazu förmlich ein.
Bestes Beispiel hierfür ist der Übernahmekampf von General Electric und Siemens um das französische Energie- und Transportunternehmen Alstom. Diese globalen Übernahmephantasien, die sich auch im Bau-, Pharma- und Chemiesektor zeigen, sind eine bedeutende fundamentale Stütze für die Aktienmärkte, die diese Art der “Liquiditätshausse” bereits deutlich signalisieren. Nicht zuletzt ist es ein klarer Beweis, dass die globale Wirtschaftslage besser als ihr Ruf ist.
Für weitere Lichtblicke am Aktienmarkt sorgt die deutsche Berichtsaison für das I. Quartal. Mit Blick auf den verhaltenen Jahresstart der US-Wirtschaft sowie schwacher Absatzmärkte in den Schwellenländern treffen im Vorfeld gedämpfte Gewinnerwartungen der Analysten auf jetzt überraschend solide Quartalszahlen. Trotz der Ukraine-Krise und einem schwächeren Südamerika-Geschäft hält Volkswagen an seinen Jahreszielen fest. Auch der solide Ausblick von Bayer bleibt bestehen und Infineon erhöhte dank einer steigenden Nachfrage aus dem Automobilsektor sogar noch seine Jahresprognose. Daimler geht von einer weiteren Konjunkturdynamisierung insbesondere in den USA und Westeuropa aus.
Die politische Börse in Folge der unübersichtlichen Situation in der Ukraine bleibt jedoch ein zumindest zwischenzeitliches Handicap. Vor diesem Hintergrund bleibt die Aktienmarktsituation zunächst volatil und vom Live-Ticker getrieben.
Für Pessimismus der Marke “Sell in May and go away” besteht aber fundamental und geldpolitisch keine Veranlassung.
Aus charttechnischer Sicht ergibt sich im DAX nennenswertes Aufwärtspotenzial, wenn der deutsche Leitindex signifikant über der Marke von 9.600 Punkten schließt. Darüber warten die nächsten Barrieren bei 9.721 und am Jahreshoch bei 9.794 Punkten.
Im Falle einer erneuten Korrektur sorgt kurzfristig die Unterstützung im Bereich um 9.350 Punkte für Halt im DAX. Wird diese dynamisch durchbrochen, besteht die nächste Unterstützung am seit Juni 2013 bestehenden Aufwärtstrend bei 9.161 Punkten. Darunter gibt die 200-Tage-Linie bei aktuell 9.039 Punkten Halt.
Die Hälfte aller DAX-Unternehmen präsentiert ihre Quartalsergebnisse. Trotz einer Ergebnisschwäche bei Linde dürfte der Industriegasehersteller an seiner soliden Jahresprognose festhalten. Der Sportartikelhersteller adidas dürfte zunehmenden Kostendruck aufgrund des harten US-Wettbewerbs zu spüren bekommen. Der Lufthansa werden zumindest Erfolge im Konzernumbau zu gute gekommen sein. BMW konnte von einer starken Nachfrage aus den USA und China profitieren. Entsprechendes gilt auch für Continental. Die solide Nachfrage nach Generika dürfte bei Fresenius für ein positives Ergebnis sorgen. Bei Siemens steht vor allem der Strategie-Ausblick vor dem Hintergrund des Übernahmeangebots von Alstom im Vordergrund. Das Ergebnis von HeidelbergCement dürfte keine negativen Überraschungen bereithalten. Im Ergebnis der Commerzbank spiegelt sich das angespannte Bankumfeld wider. Das Ergebnis von Henkel dürfte sich nach einer Schwäche im Jahresschlussquartal 2013 stabilisieren. Dank geringerer Belastungen aus Sondereffekten wird auch Lanxess eine Ergebnisstabilisierung präsentieren. Beiersdorf profitiert von dem anhaltenden Wachstum rund um die Kernmarke Nivea. Die Deutsche Telekom musste steigende Investitionskosten im Rahmen des US-Netzausbaus zu spüren bekommen. Alle im Export tätigen Unternehmen werden unter negativen Währungseffekten gelitten haben.
Auf Makroebene ist in den USA von einem steigenden ISM Index für das Dienstleistungsgewerbe auszugehen.
Auch in Euroland und Deutschland steht eine Verstetigung des Einkaufsmanagerindex für den Dienstleistungssektor an. Mit steigenden Auftragseingängen in der deutschen Industrie und einer gesteigerten Industrieproduktion bleibt Deutschland das konjunkturelle Zugpferd der Eurozone. Und auch die deutsche Exportwirtschaft hält sich trotz des Gegenwinds der Ukraine-Krise noch stabil.
Die EZB hält sich mit tatsächlichen Beschlüssen vorerst noch zurück.
Der Autor dieses Artikels ist Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. www.bondboard.de