Die EZB hat spätestens auf ihrer letzten Zinssitzung – ähnlich wie Kolumbus – terra incognita, unbekanntes geldpolitisches Land betreten. Sie betreibt unverhohlen Konjunkturpolitik. Nicht nur hat sie den Leitzins von 0,25 auf jetzt 0,15 Prozent und damit auf ein japanisches Niveau gesetzt.
Erstmalig gibt es bei einer großen Notenbank jetzt auch negative Zinsen, wenn Banken sich erdreisten, Liquidität bei der EZB zu parken. Und ein sehr üppiges Liquiditätspaket für Banken, die Kredite an die Privatwirtschaft geben wollen, kommt auch noch. Bei negativen Zinsen ist der klassische Kapitalismus eigentlich am Ende. Denn bei ihm gibt es Zinsen als Gegenleistung dafür, dass man sein Geld für eine bestimmte Zeit nicht nutzen kann. Die Aussage, dass physisches Gold keine Zinsen abwirft, bekommt nun eine neue Bedeutung.
Die Folgen für das Zinsvermögen sind enorm. Auf wieder vernünftig hohe Zinsen für unser Zinsvermögen warten wir vermutlich noch solange wie auf unkrautfreie Streuobstwiesen. In Japan sind die Zinsen schon seit über 20 Jahren auf Liliput-Niveau. Wie will man jetzt noch anständige Rendite mit Sparbuch, Festgeld und Staatspapieren machen, wenn gleichzeitig auch noch die tatsächliche deutsche Inflation – die die wirklichen Lebenshaltungskosten eines Durchschnittshaushalts misst – über der offiziellen Preissteigerung liegt? Es geht nicht! Sie können zuschauen, wie das Zinsvermögen nach Inflation wie Sand in der Uhr verrinnt. Wer wie die Mehrheit der deutschen Anleger traditionell in Zinsvermögen spart, verliert in punkto Altersvorsorge.
Und warum das Ganze? Mit dieser „geld-sozialpolitischen Umverteilung“ bezahlen die entreicherten Zinssparer die günstigen Zinszahlungen von Staatsanleihen der Euro-Peripherie. Nennen wir es die Guthabenkrise der Zinsanleger.
Das Deflationsgespenst in Euro-Süd hält sich immer noch hartnäckig. Die Konjunktur dort hinkt weiter, weil Euro-Banken bis dato nur erbärmlich wenig Kredite an die Privatwirtschaft geben.
Und, werden die Banken jetzt mit Blick auf die letzte zinspolitische Happy Hour der EZB umdenken, sozusagen kreditpolitisch vom Saulus zum Paulus werden? Nein! Pferde mag man zwar zur Tränke führen können, aber zum Saufen zwingen kann man sie nicht. Banken kaufen lieber Euro-periphere Staatspapiere, für die man im Vergleich zu Bankkrediten kein Eigenkapital zu unterlegen braucht, dass im Zuge der Bankenregulierung ohnehin knapp ist. Außerdem gibt es bei Staatspapieren dank des Euro-Rettungsversprechens Mario Draghis einen 100%-Vollkaskoschutz. Nur mit diesem Risiko-Kahlschlag konnte aus dem Säbelzahntiger der Euro-Staatsschuldenkrise ein Papiertiger werden. Nur so war die internationale Finanzwelt willig, Staatsanleihen der Euro-Peripherie wie beim Sommerschlussverkauf zu kaufen. Der ordinäre Bankenkredit zieht dabei den Kürzeren.
Und jetzt? Zwar nicht mehr zins-, dafür aber liquiditätspolitisch hat die EZB noch genügend Möglichkeiten, die Konjunktur flott zu machen. Wenn die Pferde nicht saufen wollen, müssen sie dazu gezwungen werden. Dazu zeichnen sich zwei Möglichkeiten bereits ab. Die EZB fungiert erstens als Bad Bank und kauft den Euro-Banken großzügig Kreditaltlasten aus ihren Bankbilanzen auf, reduziert ihre Ausfallrisiken und gibt ihnen so insgesamt Anreize, neue Kredite auszuleihen. Schon die gute alte Tante Fed hat dieses Instrument erfolgreich zur Konjunkturstützung eingesetzt.
Aber zweitens bleibt auch der Aufkauf von Staatsanleihen akut. Früher oder später werden auch die saftigen Rendite-Wiesen der Euro-peripheren Staatsanleihen abgegrast sein. Wenn Renditen nicht weiter sinken, also keine weiteren Kursgewinne möglich sind und zeitgleich auch noch der Euro über die Zinssenkungseuphorie der EZB abwertet, könnte es für Staatsanleihen in Italien & Co. Ernst werden. Bereits seit vier Wochen neigt der Euro gegenüber US-Dollar zur Schwäche. Und da die ausländischen Anleger auf riesigen Kursgewinnen sitzen, könnte die Währungsseite über einen gewinnmitnehmenden Kapital-Exodus zum Phänomen „Die Euro-Anleihenbaisse nährt die Euro-Anleihenbaisse“ führen.
Wieder steigende Renditen könnten die Staatsschuldenkrise in den Euro-Südländern wieder hoffähig machen. Aber dann wird aus dem bislang nur verbalerotischen Aufkaufversprechen der tatsächliche Kaufakt. Die EZB würde auch bei Staatspapieren zur Bad Bank.
Die EZB ist in einem Dilemma. Sie muss einerseits eine freizügige Zins- und Liquiditätspolitik betreiben, um die Schuldenkrise klein zu halten, die Wirtschaft anzuheizen und Deflationsgespenster zu verjagen.
Andererseits nimmt die EZB damit die Aufblähung von Anlageklassen in Kauf, die auch vor risikoreicheren Anlageformen nicht mehr Halt machen wird. Die Geldflut hebt alles. Aber je länger diese Blasenbildungen anhalten, desto weniger kann die EZB den Rückwärtsgang einlegen. Denn ein Liquiditätsdrogenentzug könnte zu unkontrollierbar großen, panikartigen Entblähungen an den Finanzmärkten führen, die schließlich auch die Konjunktur wieder in eine Eiszeit wie 2009 schicken könnten.
Es ist einfach, Zahnpasta aus der Tube zu drücken. Aber haben Sie jemals versucht, diese wieder in die Tube zurückzubefördern? Im Zweifel gegen die Stabilitätskultur der Deutschen Bundesbank und für die Konjunktur!
Nutznießer bleiben Aktien, die von schuldenfinanzierter Konjunktur bei geldpolitischem Feuerschutz gleich doppelt profitieren. So gibt es wenigstens einen Trost für entgangene geldpolitische Stabilität.
Und wenn der Euro geldpolitisch weiter abwertet, ist das ein Steilpass für exportsensitive Aktien. Und wo findet man diese? Bei uns im DAX und MDAX. Vor einem fünfstelligen DAX muss niemand Angst haben. Im zweiten Halbjahr 2014 wird der DAX seine relative Schwäche gegenüber den im laufenden Jahr bislang so starken Aktienindices der Euro-Südzone ablegen. Der konjunktursensitivere MDAX kann sogar noch besser laufen.
Auf dem jetzigen Aktienniveau sind Aktiensparpläne sicher eine gute Möglichkeit, um im Durchschnitt vernünftige Einstiegskurse zu erhalten.
Lass das mal den Draghi machen!
Der Autor dieses Artikels ist Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. www.bondboard.de